Was ist uns fremd? Eine Antwort darauf ist nicht leicht zu finden. Oft wird vergessen, dass für die Beantwortung der Frage auch wesentlich ist, wer wir sind. In der Entstehungszeit der ethnologischen Wissenschaft, der Sammlungen und Museen mit dem Schwerpunkt „Völkerkunde“, war dies nicht die dringendste Fragestellung. Das führte zu einem aus heutiger Sicht zweifelhaften Vorgehen beim Erwerb der Ausstellungsstücke. Umso mutiger ist es, wenn Museen diese Hintergründe beleuchten.
Ende Januar 2016 startete im Grassi Museum die Serie GRASSI invites. Der erste in dieser Reihe geladene Gast ist die Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Die hieraus entstandene Sonderausstellung mit dem Titel fremd liefert einen Kommentar auf die seit Mitte des 19. Jahrhundert gängige europäische Praxis des Zurschaustellens „fremder Kulturen“ in ethnologischen Museen. Ergebnis ist eine kritische Auseinandersetzung des Grassi Museums mit der eigenen Präsentationsweise. Über 20 KünstlerInnen der HGB kommentieren mit ihren Installationen die kolonialistische Sichtweise, auf der das Ausstellungskonzept basiert, indem sie BesucherInnen beispielsweise auf ihre/seine Rolle als Voyeur hinweisen oder das Ausgestellte durch Hinzufügen von Informationen in ein ganz neues Licht rücken.
Damit werden neue Wege musealer Aufbereitung aufgezeigt und einem Publikum präsentiert, das durch wichtige Initiativen zur Aufarbeitung kolonialer Bestände wie bei der Rückgabe von in der Berliner Charité aufbewahrten menschlichen Überresten an eine namibische Delegation und das 2008 gestartete human remains project nicht direkt angesprochen wurde. An anderen Stellen in Deutschland besteht noch immer geringe Bereitschaft, ähnliches tlw. noch in Kellern und Kisten aufbewahrtes „Material“ zu katalogisieren und zurückzugeben – ganz zu schweigen von offiziellen Stellungnahmen der Bundesregierung im Zusammenhang mit dem Völkermord deutscher Soldaten an den Herero.
In der Ausstellung fremd werden Schlaglichter darauf geworfen, auf welchen Wegen Objekte in ethnologische Sammlungen kamen, Persönlichkeiten und Expeditionen früher Ethnologen (und „Rassenkundler“), deren herablassende Aussagen über die von diesen be- und untersuchten Menschen wurden ebenso offen auf- wie angegriffen. Hervorgehoben wurden Zitate aus den Aufzeichnungen des Ethnologen Egon von Eickstedt, der nach seiner ‚Beschaffungsmission‘ in einer Indienexpedition 1926-29 als Begründer einer Zeitschrift für Rassenkunde auftrat. Später erhielt Eickstedt den Ruf nach Breslau als Inhaber eines rassenkundlichen, nach 1945 den Ruf nach Mainz als Inhaber eines anthropologischen Lehrstuhls.
Auch Zitate des vor über hundert Jahren als Direktor des Museums für Völkerkunde zu Leipzig eingesetzten Johann Conrad Karl Weule anlässlich seiner Ostafrika-Expedition bestechen durch kolonialwirtschaftlichen Zweckrationalismus. Der Schritt, die freie Kontroverse mit der eigenen Geschichte zuzulassen und damit historiographische Ausstellungsarbeit mit ehrlicher Offenheit auch den eigenen Wurzeln gegenüber zu verbinden, verdient großen Respekt.
Wir sind gespannt was die Serie GRASSI invites in Zukunft zu bieten hat und empfehlen derweil einen Besuch der Sonderausstellung #1 fremd.
GRASSI invites #1 fremd 29.01. – 08.05.2016